Darf man schreiben, wenn man nicht dabei war?

Eine Frage, der sich Mo Yan in seinem Roman Der Überdruss widmet, ist die, ob Schriftsteller über Dinge schreiben dürfen, die sie selber nicht erlebt haben. Das macht er subtil, aber dabei gleichzeitig mit der Brechstange, so dass es eigentlich jedem Leser klar sein sollte, aber wahrscheinlich gar nicht ist.
In dem Buch taucht ständig ein Schriftsteller auf, der in dem Dorf lebt, in dem die Geschichte des Romans spielt - Ximen Dorf. Der Großgrundbesitzer Ximen Nao trägt denselben Namen und er ist es, aus dessen Perspektive die Geschichte meistens erzählt wird. Ximen Nao wird erschossen, geht den Richtern und Fürsten in der Hölle so lange auf den Geist, bis er wiedergeboren wird. Aber er wird leider nicht als Mensch, sondern als Esel, später Stier, dann Eber wieder geboren und beobachtet fürderhin die Menschen in seinem Dorf, seine Frauen und Kinder, und vor allem: den Wandel, den Dorf und Bewohner im Laufe der Jahre erfahren.
In diesem Dorf, wie gesagt, lebt auch der Schriftsteller, der dann witzigerweise denselben Namen wie der Autor des Buches hat: Mo Yan. So kann der Mo Yan, der uns die Geschichte erzählt, über sich selber lästern, wenn er sich über die dussligen Romane des Mo Yan im Buch amüsiert. Besagter Mo Yan im Buch erzählt in diesen Romanen oft die Geschehnisse im Dorf, die zur selben Zeit der Erzähler, Ximen Nao, als Esel, Stier oder Schwein erlebt und für uns Leser wider gibt. Und dabei beschwert sich Ximen Esel / Stier / Schwein oft, das Mo Yan das alles immer total falsch erzählt in seinen Romanen (man achte auf die Doppeldeutigkeit!).
Das kann doch nur ein Witz auf oben genanntes Problem sein, ob Schriftsteller über Dinge schreiben dürfen, die sie selber nicht erlebt haben? Als Leser bist Du auch überzeugt, dass die Aufzeichnungen der Ereignisse in der Version von Mo Yan (im Buch) in seinen Romanen erzählt falsch ist, da Du als Leser den Erinnerungen von Ximen Esel / Stier / Schwein mehr glaubst (weil Du Dich mit dem Protagonisten ja immer irgendwie identifizierst).
Erste Konklusion: Nein, denn wenn Schriftsteller das tun, kommt nur Murks raus.
Dann wird Dir klar, dass alles in dem Buch fiktiv ist, und dass Deine Version der Geschehnisse ja nur aus einem Buch kommen, das Mo Yan (in echt) geschrieben hat. Du traust also dem fiktiven Autoren nicht, weil Du dem realen Autoren mehr traust, der Dir aber eine fiktive Geschichte erzählt. Das ist lustig.
Zweite Konklusion: Keine Ahnung, aber Vorsicht vor denen, die "Nein" als mögliche Antwort sehen.
Was man ja bis vor wenigen Augenblicken selber war. Sowas nenne ich Metakonstruktion im Rahmen einer gut erzählten Geschichte. Wenn ein Autor mich als Leser auf diese Art und Weise zum Komplizen macht, wenn sich Buch und Fiktion so unbemerkt verbinden, dann verstehe ich auch, warum jemand, der sowas in 43 Tagen am Stück runter schreibt, dafür dann auch einen Literaturnobelpreis einsackt, weil er, so die Begründung,
.. mit halluzinatorischem Realismus Märchen, Geschichte und Gegenwart vereint.
Update: (Der Überdruss: 538 von 806 Seiten hinter mir)