Gelesen: Tolstois Albtraum von Viktor Pelewin

Tolstois Albtraum ist ein wirklich schwer zu beschreibendes Buch, ein Ritt quer durch alle Genres und Stile der russischen Literatur. Eine Inkarnation von Tolstoi tritt im Buch selber auf, auch eine von Dostojewski.
Insgesamt geht es um die letzte Reise von Lew Tolstoi, der zeitlebens gegen die Kirche war, am Ende aber seinen Frieden finden wollte und zu einem Kloster nach Optina Pustyn wollte, um sich dort mit der Kirche auszusöhnen. Kurze Zeit später starb Tolstoi an den Folgen einer Lungenentzündung, irgendwo auf einem Bahnhof in Russland. Soweit die Realität.
Im Buch ist Graf Tolstoi auf derselben Reise, kann sich aber an nichts erinnern - auch nicht, warum er überhaupt nach Optina Pustyn will. Er wird angegriffen, weil der Zar und die Kirche ihm nach dem Leben trachten. Er trifft Leute aus seinen Büchern und letzten Endes einen Dämon, der sich als Autor eines anderen Buches ausgibt, in dem Graf T. die Hauptrolle spiele.
Und von jetzt ab wird's spassig, wild, abwechslungsreich. Tolstoi irrt durch die Handlung seines Buches und fühlt sich leer und ausgenutzt. Er lernt, wie er da raus kommen kann, um nochmal mit seinem Autoren zu sprechen. Der allerdings hat weitaus größere Probleme, denn er muss sein Buch umschreiben, und später sogar in ein Computerspiel verwandeln. Dostojewski beispielsweise ist Protagonist in einem Zombie-Shooter, als ihn Graf T. besuchen muss.
Und so springt man als Leser zwischen Tolstois Erlebnissen, seiner Diskussion mit dem Autoren über die Erlebnisse und auch Besuchen in anderen Büchern und Computerspielen hin und her - von einer Ebene zur anderen bis hinauf in die Ebene, die wir als Leser Realität nennen. Das klingt verwirrend und gewagt und ist gespickt mit Verweisen auf russische Literatur, dass einem die Ohren schlackern. Aber es klappt, weil Pelewin wirklich schreiben kann, dramaturgisch wie stilistisch.
Elke Engelhardt hat das in ihrer Besprechung von Tolstois Albtraum so genannt: Leseabenteuer zwischen Meta-Ebene und Computerspiel. Ein paar Auszüge daraus:
"Diesen Roman nachzuerzählen ist schier unmöglich, selbst das Thema zu umreißen fällt schwer. Zwar gibt es einige Bücher, die sich lange vor Pelewins Roman „Tolstois Albtraum“ mit der Frage beschäftigen, was das eigentlich für Figuren sind, die der Schriftsteller erschafft, und die ihn in den gelungensten Fällen überleben. Was, wenn sie doch ein Leben hätten, über jenes, das sich beim Lesen entfaltet hinaus? Und dann ist da noch die Frage nach dem Leser? Welche Rolle spielt der eigentlich? Erweckt er die Figuren lediglich zum Leben, oder ist da noch mehr?"
Und letzten Endes sagt Elke Engelhardt:
"In Pelewins Roman gibt es keine felsenfeste Überzeugung, die nicht außer Kraft gesetzt werden kann, nur darum ist es möglich, dass Abenteuerroman und Satire, Konsolenspiel und Philosophie wie Zahnräder ineinander greifen, die sich niemals bis zum kompletten Verschleiß, aber in den meisten Fällen zum Glück des Lesers drehen."
Diesem Fazit schliesse ich mich an. Großes, gewagtes Buch. Experiment gelungen. Unbedingt lesen.